Aus der Laudatio von Susanne Dagen anlässlich der Verleihung des Preises 2015 „Hommage à la France“ der Brigitte- Schubert-Oustry- Stiftung / Dresden an Anna Tüne
Es ist mir eine große Ehre, die Laudatio auf eine Autorin, besser noch auf einen Menschen wie Anna Tüne halten zu dürfen.
(….)
Das heute zu prämierende Buch umfasst viele Aspekte unserer aktuellen Diskussion, es zeigt die schon immer währende Grausamkeit und auch den Hass, der dem Fremden entgegenschlägt. Die Fremdheit hat Anna Tüne schon früh empfunden. (…)
Mit ihrem, im Jahr 2010 erschienen autobiographischen Roman hat sie für Jeden von uns einen Blick in eine Welt eröffnet, die wir vielleicht nur aus den spärlichen Erzählungen unserer Großeltern, meiner Großeltern kennen. Nämlich einen Blick in die Welt der Entwurzelten, den Flüchtigen, den Verstoßenen.
Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg führte ein „Programm zur Bewirtschaftung verwaister ländlicher Gebiete“ eine deutsche Flüchtlingsfamilie, Anna Tünes Familie, aus Posen in verwaiste ländliche Gebiete Frankreichs.
„Dieulefit „ – Gott hat´s gemacht – heißt wörtlich übersetzt der 3000-Seelen-Ort, in dessen Nähe die fünfköpfige deutsche Familie … 180 Hektar unfruchtbares Land, eine alte Schafherde und ein verfallenes Bauernhaus zugewiesen bekam.
Von solcherart Neubesiedlungen eines unfruchtbaren oder verlassenen Landes las ich schon häufig. Von denen zum Beispiel, die aus Lothringen nach Rumänien kamen, in einen Ort nach „Triebswetter“ etwa. Der Ortsname sagt alles; trübes Wetter, viel Regen und immer wieder Hochwasser machte die ersten Bewirtschaftungen schwer. Der rumänische Autor Catalin Dorian Florescu beschreibt das in seinem Roman „Jacob beschließt zu lieben“ auf eindringliche Weise.
Wie schmeichelt da der Name „Dieulefit“ unseren Ohren.
Von Gott gemacht...
Der Vater, schwer verwundet aus dem Krieg heimgekehrt, die Mutter schier traumatisiert von den erlebten Bombennächten. Was für ein Neuanfang – und dieser ausgerechnet in einer Gegend, in der die deutschen Besatzer noch bis vor kurzem bestialisch gewütet hatten.
Gott hat´s gemacht …
Und dazu bitte sollen sie beitragen, die Neuankömmlinge vor allem. Dass Land wieder urbar machen, den Glauben mittragen, Franzosen werden.
Der Vierjährigen, der "Kleinen", wie sie sich nennt, ist das neue Land, das Licht, die fremde Sprache, die Natur ein verheißungsvolles Abenteuer, auch wenn ihr der Dorfnarr und die Kinder auf dem Schulhof "Boche-Schwein", das Schimpfwort für die Deutschen, entgegen schleudern, sie verjagen, quälen und auf grausam kindliche Weise züchtigen.
Aber es gab auch Andere. Sully, dem das Buch gewidmet ist zum Beispiel.
"Er war in der schrecklichen Zeit Kundschafter und Partisan gewesen. Er hatte sogar etliche von den Engländern abgeworfene Munitionskisten und Waffen in seinem Keller versteckt. Sullys Mut und Integrität machten ihn über jeden Zweifel erhaben. Listig wird er wie nebenbei gesagt haben: 'Es gibt überall Gute und Böse.' Er sagte es in der Gastwirtschaft und auf dem Feld, dem Briefträger und dem Bäcker, dass sie es weitersagen mochten. Er ging mit der Kleinen ins Dorf, besuchte mit ihr Einzelgehöfte und überall stellte er sie beiläufig vor: 'Das ist die kleine Deutsche, die Jüngste.' Die Kleine sah, wie sich die Augen immer wieder auf sie richteten, prüfend, reserviert und manchmal feindselig. Wenn aber jemand, meist war es die älteste Frau des Hauses, ein Lächeln wagte und als ersten Schritt die Keksdose aus einem großen alten Schrank holte, wenn die Kleine dann 'merci' sagte, begann der Bann leise zu brechen. Dies reichte Sully jedoch nicht, er behielt seine Hand auf ihrer Schulter, damit sie sich das Bild einprägten, dass er die Kleine aufnahm bei ihnen".
"… was kann sie schon dafür …"
Die Familie hatte Glück. Denn Dieulefit hatte Erfahrung mit Entwurzelten, Vertriebenen und Geflüchteten, war ein Ort der Gerechten. Rund 1500 politisch Verfolgte und Juden waren während der deutschen Besatzung hier versteckt, ernährt und gerettet worden – unter ihnen ein jüdischer Professor mit Familie aus Heidelberg und auch der Maler WOLS.
In einem Essay des Historikers Bernard Delpal heißt es:
"Die besondere Form des Widerstands hier bestand darin, so viele Menschen wie möglich der Verfolgung, den Razzien und Aktionen der Vichy-Regierung und den Kräften der Besatzungsmacht zu entziehen. Das hieß: egal welcher politischen Meinung man war, Flüchtlinge zu retten war hier eine moralische Pflicht, der sich keiner entziehen konnte".
Jahre später hat man noch lebende Zeitzeugen zu Ihrer Erfahrung in Dieulefit befragt.
Und sie sprachen auch über das Glück, hier Jahre verbracht zu haben, im Kontakt mit der Bevölkerung und in diesem ländlichen Milieu, und darin wieder Hoffnung auf den Menschen und die Gesellschaft gefunden zu haben. Sie hatten das Böse gesehen. Sie sind dem Guten begegnet.
In der Geschichte spricht man vom " Wunder von Dieulefit", weil in all den Jahren niemand der Verfolgten denunziert worden war.
Gott hat´s gemacht …
War doch auch dieser Ort eine Enklave protestantischen Glaubens. Der die Verfolgung religiöser Minderheiten in der Geschichte trug, wie die jener Flüchtigen, der Fremden. Noch heute, so sagt man, gelten Frankreichs Protestanten als offener gegenüber anderen Minderheiten.
Im Buch beschreibt Anna Tüne den ersten Kirchgang als einen wesentlichen Schritt zur Integration, als Türöffner in die Gemeinschaft:
"Das wurde der große Auftritt der Mutter. Noch Jahrzehnte später hatte keiner der damals Anwesenden diesen Augenblick vergessen: Die Gemeinde hatte ihr altbekanntes 'Oh, douloureux visage!' angestimmt, da hatte es die Mutter auch schon erkannt und intonierte mit ihrer wirklich schönen, sehr reinen hohen Stimme 'O Haupt voll Blut und Wunden'. Es lag sehr viel in dieser Stimme. Die Mutter legte sehr viel Wehmut mit hinein und Hingabe an einen Gott, der allen gnädig sein möge in ihrem Schmerz Über das Lauschen vergaßen viele das Mitsingen, sodass die Stimme der Mutter, tapfer vom Pfarrer eskortiert, fast allein das Lied weiter trug bis zu seinem Ende. Da erhob sich kaum wahrnehmbar ein bewundernd-verwundertes Murmeln. Der Pfarrer lächelte befriedigt, so weit kannte er sie doch, seine Schafe: Ihr Gespür für Schönheit war sicher und verlässlich“.
Eine "hypothetische Autobiografie" hat Tüne mal ihr Buch genannt, in dem sie sich nicht scheut, auch über die Vertriebenengeschichte ihrer Eltern, ihrer Großeltern zu erzählen; historische Exkurse über die deutsche Besatzungszeit in der Region von Dieulefit auszubreiten, über Konflikte zwischen Deutschen und Franzosen nach dem Krieg zu berichten.
Begleiten wir sie doch in ihrem Buch von den schwierigen Anfangsjahren bis zu ihrer wehmütigen Abreise aus einer neu gewonnenen Heimat zehn Jahre später.
"Was blieb von dem Abenteuer Frankreich? Denn ein Abenteuer war es zweifellos gewesen, traditionellen 'Erzfeinden' zu begegnen. Es gab einige Ansprachen, man sprach von Freundschaft und Versöhnung. Später erst begriff die Kleine, dass viele jener französischen Nachbarn, Freunde oder Bekannten der deutschen Familie überraschenderweise dankbar waren. Durch die Spiegelung ihres eigenen Selbst im vermeintlichen Feind und durch die Wiedereinsetzung dieses vermeintlichen Feindes in die universelle Bruderschaft der Menschen war etwas in ihnen geheilt worden. Der Gegenstand ihres Hasses hatte sich als des Hasses nicht würdig erwiesen, stattdessen verdiente er Respekt, bisweilen gar Freundschaft“.
Wir schreiben das Jahr 2015. Fast 70 Jahre später, 70 Jahre ohne Krieg sehe ich mich in einer ähnlichen Situation. Nur, wer bin ich? Bin ich wie die, die Angst haben vor dem Fremden, davor, dass Dinge sich verändern? Dass unsere Gesellschaft sich Fragen stellen muss, nun in dem Moment, die schon viel früher hätten gestellt werden müssen? Wie geht es Jenen, die kommen, um hier zu leben? Die sich, wenn schon nicht im Paradies, aber in Sicherheit wähnen. Denen, die unser Land als Verheißung betrachten und nun beschimpft werden. Wie geht es denen, die Deutschland als Bedrohung sehen? Und denen, die reich in den Augen Jener und arm an Glauben sind?
Die glauben, aber anders glauben.
Dieses Buch ist ein Appell an die Wahrhaftigkeit. An das Menschliche, das helfen lässt aber niemals aus den Augen verliert, warum wir helfen müssen. Warum so viele Kriege geführt werden, an denen so wenige verdienen. Warum Menschen in Gefahr gebrachte werden, warum sie ihre Heimat verlassen müssen. (…)
Gott hat´s gemacht … Nein. Wir haben es gemacht.
(…)
Unsere Entscheidung, Sie, liebe Anna Tüne, heute mit dem Literaturpreis der Brigitte-Schubert-Oustry-Stiftung „Hommage à la France“ auszuzeichnen gilt nicht nur ihrem Buch „ Von der Wiederherstellung des Glücks“, sondern auch ihrem gesamten bisherigen Engagement für eine Aussöhnung zwischen Frankreich und Deutschland, beides Länder, die von den Schrecken des Zweiten Weltkrieges gezeichnet sind.
Das Heranwachsen in Dieulefit hat sie zu einer Grenzgängerin zwischen Frankreich und Deutschland gemacht, die Verantwortung übernimmt. Fünfzig Jahre nach der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages, einem wahrhaft wesentlichen Tag für Deutschland und für Frankreich eröffneten Sie, liebe Anna Tüne in der deutschen Partnerstadt von Dieulefit, im hessischen Lich, eine Ausstellung über den Rettungswiderstand in Dieulefit während der deutschen Besatzung mit dem Titel: "Topografie der Menschlichkeit", eine Wanderausstellung, die an bereits mehr als zwanzig Etappen in Deutschland gezeigt worden ist.
Sie organisieren Begegnungen, internationale Gemeinschaftsprojekte, die das zum Thema haben, was uns umtreibt als Menschen, als Staatsbürger, als Deutsche – Zivilcourage.
Dafür danke ich Ihnen.
Susanne Dagen
Dresden, den 14.11.15