Dresdner Friedenspreis für Domenico Lucano, den Bürgermeister des Willkommensortes Riace Von Michael Ernst in: Dresdner Neueste Nachrichten, 12.02.2017
Der süditalienische Bürgermeister Domenico Lucano nahm in der Semperoper den Dresdner Friedenspreis 2017 entgegen
Quelle: Oliver Killig
Die Verleihung des Dresdner Friedenspreises in der Semperoper ist zu einem bewegenden Plädoyer für Mitmenschlichkeit geworden. Der mit 10 000 Euro dotierte Preis ging an Domenico Lucano, Bürgermeister des italienischen Dorfes Riace in Kalabrien. Er nahm in den vergangenen Jahren viele Flüchtlinge auf und integrierte sie ins Dorfleben.
Dresden. Europas derzeit größter Friedhof dürfte sich im Mittelmeer befinden. Dort, wo die Menschen nicht beigesetzt werden, sondern in ihren letzten Atemzügen verzweifelt ums Überleben ringen,
bis sie die letzte Lebenskraft verlässt. Tausende Menschen – Frauen, Männer und Kinder –, tausende Einzelschicksale haben in den Wellen des Mittelmeers ihr vorzeitiges Ende gefunden.
Aus dem Dresdner Theaterplatz ist dieser Tage um den 13. Februar ein temporärer Fried-hof geworden. „Lampedusa 361“ zeigt Fotografien der Gestrandeten, die ihre Flucht nicht überlebt haben, aber
auch nicht im Meer versunken sind. Es ist ergreifend, wie viele Men-schen hier schweigend die Schicksale studieren, die man niemandem wünscht: Eine Mut-ter ist mit ihren drei Kindern ertrunken,
Dutzende Menschen sind im Unterdeck eines Schiffes erstickt, zahlreiche Tote wurden ohne Namen beigesetzt wurden, nur mit einer Nummer.
Der Theaterplatz, ein Ort der Tränen. Sonntagvormittag bot er die bezwingende Assozia-tion zur Verleihung des Dresdner Friedenspreises an Domenico Lucano, den Bürgermei-ster des kalabresischen
Städtchens Riace. Diese Entsprechung von draußen und drinnen betonte auch Hausherr Wolfgang Rothe, als er in seiner Begrüßungsrede darauf hinwies, dass nichts trauriger sei als ein namenloses
Grab. Die ganze derzeitige Flüchtlingssituation sei geprägt durch eine große Abwesenheit von Mitgefühl.
Domenico Lucano, „Mimmo“, wie er von seinen Freunden genannt wird, geht in Riace den entgegengesetzten Weg und lebt Mitgefühl ganz selbstverständlich im Alltag. Seit Jahren gilt Riace als
Willkommensort und steht vorbildhaft für eine Kultur des menschlichen Miteinanders. Da wird nicht gefragt, woher jemand kommt, ob er an irgendwelche Götter glaubt oder nicht, da wird gemeinsam
gelebt. Der lange von Armut und Abwanderung geprägte Ort im Süden Italiens ist dadurch wieder im Wachsen begriffen, leerstehende Häuser füllen sich mit Leben, hier wohnen die unterschiedlichsten
Menschen einträglich miteinander. Riace ist von Wim Wenders in einem Film porträtiert worden, der deutlich macht, wie wohltuend das Lachen von Kindern auf Straßen und Plätzen sein kann. Und was
es bedeutet, wenn es in und zwischen den Häusern verstummt. Bürgermeister Lucano erkannte beizeiten, dass die Menschen, denen der weltweite Sammelbegriff „Migranten“ anhängt, kein Problem seien,
sondern eine Chance. Die Ärmsten der Armen, die vor Krieg und Elend fliehen, werden an vielen Orten als „illegal“ klassifiziert und verfolgt. Was aber ist ihre „Straftat“, fragt Wenders, wenn
nicht ihr blankes Leben, ihr Dasein?
In Riace haben etwa 500 Menschen ein neues Zuhause gefunden. Sie kommen aus verschiedensten Ländern der Welt und machen nun etwa ein Drittel der Einwohnerschaft aus. In der Semperoper bekannte
der 59-jährige Lucano, dass Riace in alle Welt eine Botschaft der Menschlichkeit aussenden wolle. Laudator Martin Roth, der für diese Preisverleihung sehr gern wieder nach Dresden zurückgekommen
sei, wo er lange als Museumschef gewirkt hatte, brachte es so auf den Punkt: „Domenico Lucano hat sein Dorf gerettet“. Mit einer solchen Haltung könne die Welt gerettet werden. Freilich braucht
es dafür viele Menschen, die sich anstecken und mitreißen lassen, um anderen zu helfen. So soll der Dresden-Preis, den Domenico Lucano in der Folge von Michail Gorbat-schow, Daniel Barenboim und
zuletzt Whistleblower Daniel Ellsberg erhielt, auch als Zeichen für künftiges Enga-gement verstanden werden. Ganz konkret soll in Riace ein Dresden-Haus eröffnet werden, wo Menschen von hier
Hilfe vor Ort leisten können, um die Initiative Lucanos aktiv mit Leben zu erfüllen.
Ex-Innenminister Gerhart Baum, dem Verein Friends of Dresden Deutschland eng verbun-den und von der Hoffnung durchdrungen, dass „aus Fremden Nachbarn werden“, er sparte gewohntermaßen nicht mit
deutlichen Worten. „Es sind nicht nur die Lebenden, die unserer Fürsorge bedürfen, auch die Toten.“ Damit zielte er weniger auf die „Lam-pedusa“-Installation vor der Semperoper (die in dieser
Drastik so fern seiner Heimat auch Domenico Lucano stark berührt hat), als auf das Ehepaar Amalia und Giuseppe Gelardi aus dem sizilianischen Agrigento. Sie haben ein auf der Flucht ertrunkenes
17-jähriges Mäd-chen aus Eritrea in ihrer Familiengruft aufgenommen, um der Toten eine würdige Ruhe-stätte zu geben. Dafür erhielten sie einen Sonderpreis der Veranstalter in Dresden. Für die
Gelardis war ihr Tun eine Selbstverständlichkeit.
Zur Begründung der Preisvergabe an Domenico Lucano:
„So etwas kommt selten vor, dass der Bürgermeister eines winzigen Ortes jenseits der Metropolen der Welt manche starken Nationen beschämt. Domenico Lucano hat dies getan, indem er
Mitmenschlichkeit zum einzigen Maßstab im Umgang mit Flüchtlingen machte. Während anderswo Zäune gebaut werden und um Aufnahmequoten gefeilscht wird, empfängt Riace seit 18 Jahren vor Krieg und
Armut Geflohene mit offenen Armen. Und damit rettet man sich gegenseitig, die Einwohner von Riace die Migranten und die Migranten das kleine kalabrische Dorf, das vom Aussterben bedroht war. So
wird in Kalabrien das vorgelebt, was Domenico Lucano ,Die Utopie der Normalität‘ nennt. In einer Welt, in der immer mehr Menschen gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, braucht es nicht noch
mehr Angst vor Fremdem, nicht noch mehr Hass, sondern viel mehr Riaces und mutige, mitmenschliche Persönlichkeiten wie Domenico Lucano.“
Dr. Günter Blobel, Nobelpreisträger und Mitinitiator des Dresden-Preises
Videobeitrag von 2016
http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=59140