Riace, die Flüchtlingsfrage und eine unbarmherzige Repressions-Politik heute
Schon vor den Wahlen am 4. März 2018, nach denen dann die „grün-gelbe“ Regierung aus der rechtsextremen Lega und der 5-Sterne-Bewegung gebildet wurde, verging kaum ein Tag, ohne dass der heutige Innenminister Matteo Salvini von der Lega das „Experiment Riace“ und den dortigen Bürgermeister Domenico Lucano angegriffen hätte. Nachdem Salvini dann Innenminister Italiens geworden war, wurden aus den Angriffen Taten und offene Beleidigungen. „Der Mann ist eine Null“ war noch eine der Harmlosesten. Er warf dem Bürgermeister vor, sich selbst an den Geflüchteten zu bereichern, sie durch die Willkommenskultur überhaupt zur Überquerung des Mittelmeers zu ermutigen und bezeichnete die Frauen, Männer und Kinder, die zu Hunderten ihr Leben aufs Spiel setzten, um Europa zu erreichen, als „Kreuzfahrttouristen“. In seinem ersten Gesetz, das er bezeichnenderweise „Sicherheitsdekret“ nannte, wurde die schrittweise Schließung aller kommunalen Einrichtungen angeordnet, die Migranten – egal mit welchem Status – aufnehmen und ihre Zusammenführung in großen Aufnahmezentren beschlossen, die in Italien oft mit dem deutschen Wort „Lager“ benannt werden. Gleichzeitig wurde der „humanitäre Schutz“ per Federstrich abgeschafft, wodurch Zehntausende in die Illegalität abrutschten.
Dass sich in diesem neuen Klima auch die Justiz in Bewegung setzte, ist nicht weiter verwunderlich. Am 2. Oktober 2018 veranlasste das Gericht von Locri, in dessen Zuständigkeit Riace fällt, die
Verhaftung von Domenico Lucano. Die Anklagepunkte waren zwei: Begünstigung der illegalen Einwanderung, weil er eine Scheinehe zwischen einer Nigerianerin und einem Einwohner aus Riace geschlossen
haben soll. Und zweitens die illegale Ausschreibung bei der lokalen Müllabfuhr, die einer Kooperative aus Einheimischen und Migranten anvertraut wurde. Die Verhaftung wurde dann in Hausarrest
umgewandelt, was hieß, dass der Bürgermeister seine Wohnung nicht verlassen und auch nur beschränkt mit der Außenwelt kommunizieren durfte. In ganz Italien gab es daraufhin spontane
Solidaritätskundgebungen mit Domenico Lucano. Gleichzeitig begann eine Unterschriftensammlung, um Lucano für den Friedensnobelpreis zu nominieren. Einige Wochen später wurde der Hausarrest dann
wiederum durch das Verbot ersetzt, in seinem Heimatort zu leben, eine Art Exil. Seitdem lebt der Bürgermeister in einem Nachbarort von Riace. Im nächsten Schritt hob das Berufungsgericht all
diese Maßnahmen auf und erklärte, dass sich Mimmo oder Mimì, wie er genannt wird, in keinem Punkt strafbar gemacht hatte. Aber ein anderes Gericht nahm die Anklagepunkte wieder auf und beschloss,
den Bürgermeister von Riace nun doch vor Gericht zu stellen. Der Prozess steht noch aus und solange darf Domenico Lucano seinen Heimatort nicht betreten.
Riace ist heute vollkommen anders als noch vor 6 Monaten. Als das Innenministerium im vergangenen Oktober alle kommunalen Aufnahmeprojekte schloss, hatten dort etwa 400 Geflüchtete Schutz
gefunden. Sie hatten jetzt drei Alternativen: Entweder „unsichtbar“ werden und das Heer der „illegalen“ füllen; sich beugen, Riace verlassen und irgendwo untergebracht werden, weit weg von den
Freunden, die man inzwischen in Kalabrien gefunden hatte; oder bleiben und damit den Status und auch alle Rechte verlieren, darunter Gesundheitsversorgung, ein Dach über dem Kopf, regelmäßiges
Essen, und so weiter.
Etwa 40 Migranten sind geblieben und werden heute von verschiedenen Organisationen unterstützt, die Geld spenden, um wenigstens das Nötigste bereit zu stellen – wie lange das noch möglich sein
wird, weiß niemand. Die vielen kleinen Handwerksbetriebe, in denen Geflüchtete zusammen mit Einheimischen Andenken und Gebrauchsgegenstände anfertigten und verkauften, sind geschlossen. Auch die
örtliche Grundschule, in der auch die Kinder der Migranten unterrichtet wurden, wurde geschlossen, da Riace nicht genügend „eigene“ Kinder hat, um die Schule zu rechtfertigen. Etwa 80 Riacesen
sind arbeitslos geworden und denken daran, nach Norditalien oder in anderen Länder auszuwandern. Das Dorf hat mit einem Schlag fast die Hälfte seiner Einwohner verloren.
Ende Mai fanden neben den Europawahlen in Riace auch Gemeindewahlen statt. Domenico Lucano durfte nicht erneut kandidieren, da man nach italienischem Gesetz nicht mehr als drei Mandate
hintereinander Bürgermeister sein darf. Im Vorfeld aber hatte Innenminister Matteo Salvini bereits erklärt, dass er alles daran setzen werde, dass seine Partei den nächsten Bürgermeister von
Riace stellt.
Esther Koppel / Journalistin / Rom