Paul Marcus/ Inka Bach

Zwischen zwei Kriegen.

Aus Berlins glanzvollsten Tagen und Nächten

Transit Verlag, Berlin 2013

  

»Draußen ist ein junger Mann, der Sie sprechen möchte«, sagte Herr Nietz, der lange, blonde Portier des »Romanischen Cafés«. 
»Warum kommt er nicht rein?«, fragte mein Tischnachbar in seinem lyrischen Tonfall.

Dann stand der schüchterne junge Mann an unserem Tisch. 
»Mein Name ist Billy Wilder, eigentlich Samuel Wilder ... Ich komme aus Wien, eigentlich aus Krakau«, stellte er sich vor.

»Setzen Sie sich doch, bitte. Und was kann ich für Sie tun?«, fragte ich. 
»Wenn Sie mich zum Beispiel zu einer Tasse Kaffee einladen könnten ...«

Das war man im »Romanischen« gewohnt und nicht nur von meinem Tischnachbarn Renato Mondo, der seine »Gläubiger« mit den Worten begrüßte: »Heute will ich dich nicht anpumpen. Heute brauche ich kein Geld, gib mir eine Mark!« [...]


Bald sah man Billy Wilder nur noch in seinen freien Stunden im »Romanischen Café« – ausgezeichneter Journalist, der er war, hatte er nämlich eine Stellung bekommen. Wer schreiben konnte und journalistische Anlagen hatte, brauchte sich damals keine grauen Haare wachsen zu lassen. Es gab noch an die zwanzig Tageszeitungen in Berlin, dazu unzählige Zeitschriften und eine endlose Reihe von Fachblättern. Wenn man das Adreßbuch aufschlug, fand man nahezu in jedem Haus jemand, der etwas mit der Presse zu tun hatte. Billy mietete sich bei Frau Schulz-York am Viktoria-Luise-Platz 11 ein und verdiente sich seinen Unterhalt. Billy konnte nun schon Freunde protegieren: den Filmautor Walter Reisch, der späterhin mit dem Drehbuch zu »Maskerade« einen Welterfolg errang und heute zu den bestbezahlten Hollywoodautoren gehört, und den Schlager- dichter Fritz Rotter, der allein mit »Ich küsse Ihre Hand, Madame« eine runde Million verdiente. Den beiden ging es eigentlich viel besser als dem jungen Reporter, aber vielleicht hatte er schon eine untergründige Ahnung von seiner eigenen späteren Karriere als Filmregisseur und wollte seinen Freunden helfen.
»Willst du mir einen großen GefaIlen tun und heute Nachmittag zum Tanztee ins Edenhotel kommen?« fragte mich Billy Wilder eines Tages.

Irgend etwas war mit seiner Berliner Zeitungsstellung schief gegangen, und kurz entschlossen war er Eintänzer im »Eden« geworden. Er war ein guter Tänzer. Einen Smoking besaß er, und die erforderliche zweite Sprache, die jeder Gigolo können muß, sprach er auch – nämlich Englisch.

 

 

Auszug aus dem Nachwort von Inka Bach

 

... Inzwischen ist aber Paul Marcus in Journalistenkreisen längst bekannt. Er unterhält gute Beziehungen zur Theater-, Kabarett- und Filmszene, kennt deren Klatsch und Tratsch, weiß über alles und jeden Bescheid und geht im »Romanischen Café«, Treffpunkt der Künstler und Intelligenz im Neuen westen Berlins, ein und aus, nach eigenem Bekunden mindestens einmal täglich. Egon Erwin Kisch, der »Rasende Reporter« aus Prag, sagt dort zu ihm, hellsichtig seine spätere Chronistenbegabung erkennend: »Wenn ich längst nicht mehr sein werde, wirst du mit Vollbart hier sitzen und zahnlos vor dich hin murmeln: ›Ich hab’ den Kisch noch persönlich gekannt ...« (zitiert nach Willimowski S. 32)

Einen »richtigen Studentenulk« inszeniert Paul Marcus 1928, als er vom »Berliner Börsen-Courier« in die berüchtigten Kellerlokale, die noch kurz zuvor in der Zeit der Inflation Mode waren, geschickt wird. Bei seinen Recherchen gerät er in der Nähe vom Nollendorfplatz in den »Toppkeller«. Pem beschließt – köstlich die Episode in diesem Buch –, mit Freunden, allesamt Laien wie er, dort ein eigenes Kabarett zu grün- den. Sie nennen es »Die Unmöglichen«, und der Name ist Programm, ohne Anspruch und Ambition. Durch den Kakao gezogen werden Attitüden sexueller Aufklärung oder auch schon die Deutschtümelei der Nazis. Zu einem späteren Zeitpunkt stößt noch der legendäre Werner Finck hinzu. Immerhin läuft das Programm mehrere Monate, wird gut besucht, aber auch rechtschaffen von Erich Kästner und Walter Hasenclever verrissen. Erich Maria Remarque und Carl Einstein weilen als Stammgäste unter den Zuschauern. Der Schöneberger »Toppkeller« wird übrigens im »Führer durch das lasterhafte Berlin« (Curt Moreck, 1931) unter der Rubrik »Lesbische Lokale« erwähnt. Anita Berber und Claire Waldoff sind Gäste. Bei Insidern heißt er »Lesbotanischer Garten«.

Tollkühn sind seine »Journalisten-Köpfe«, die der Grünschnabel des Gewerbes im Herbst 1928 über gestandene Kollegen für die Sonntagszeitung »Berliner Herold« zu schreiben wagt; mit Chuzpe verschafft er sich durch seine Urteile über Film- und Theaterkritiker Beachtung und Achtung. Bald fragt sich jeder, den er noch nicht in der Mangel hatte, warum er übersehen wird. Von nun an kommt keiner mehr im Berliner Pressebetrieb an Pem vorbei.

Da wohnt er inzwischen zur Untermiete in der Bozener Straße in Berlin-Schöneberg und führt als »enthusiastischer Einzelgänger« ein ungesundes Junggesellenleben. Zu viel Kaffee, Alkohol, Zigaretten, zu wenig Schlaf und immer in Eile. Die Aufträge häufen sich. Er ist gefragt. Im Grunde ist er am Ziel seiner Träume als Journalist angekommen. Diesem lebhaften Interesse an allem, was sich in der Kulturszene zu dieser Zeit abspielt, ist zu verdanken, dass er sich später so verblüffend genau an die turbulenteste Zeit, die Berlin je gesehen hat, erinnern kann.

1929 beginnt Paul Marcus für die »Neue Berliner Zeitung – Das 12 Uhr Blatt« zu arbeiten, dann auch für den »Filmkurier«. Er zählt nun »zur ersten Garnitur« der Berliner Kulturkritiker. Seine Porträtserie von 1931 »Wir trafen gestern« über Filmschaffende und deren aktuelle Projekte bietet eine pfiffige Mischung aus Impressionen, Informationen und Atmosphäre auf engstem Raum. Diese Reportagen zeigen Pem in Höchstform. Man reiht ihn unter die zehn besten Berliner Theaterkritiker. Als Filmkritiker ist er erst recht eine Größe. Er schreibt über Fritz Kortner, Ernst Lubitsch, F.W. Murnau, Marlene Dietrich, G.W. Pabst, Robert Siodmak, Gustaf Gründgens, Murnau, Fritz Lang, Jean Cocteau, René Clair, Charlie Chaplin ...

Wie so viele glaubt auch Paul Marcus, nachdem die Nazis an die Macht gekommen sind, der Spuk würde bald vorbei sein. Nachdem er nach dem Reichstagsbrand 1933 überstürzt – zum Glück wird er noch rechtzeitig gewarnt – Berlin verlassen muss, gibt »der Verlässliche«, wie Brecht ihn einmal aufgrund seines enormen Gedächtnisses nennt, im Wiener Exil »Pem‘s Privat-Berichte«, zweiseitige, hektographierte Blätter heraus. Später, in London, erscheinen sie auf Englisch als »Pem’s Personal Bulletins« – eine einzigartige, wöchentliche Chronik der exilierten Kunst- und Kulturszene, die von nun an die Emigranten über Ländergrenzen hinweg verbindet. Bis zu seinem Tod entstehen mehr als tausendfünfhundert P.P.B.s, sämtlich in Eigenproduktion vervielfältigt.

Von seinen Weggefährten wird Pem bald zum »Papst des Exils« erkoren. Eher fungiert er als ihr Pressesprecher, übernimmt er doch für sie die Öffentlichkeitsarbeit, als sie Popularität und Zusammenhalt einbüßen. »Wen PEM auf seinen Listen hatte, der war nicht verschollen«, erinnert sich dankbar die Schriftstellerin Gabriele Tergit zu Paul Marcus’ siebzigstem Geburtstag. Sogar in Nazideutschland tauchen unter der Hand P.P.B.s auf.

Paul Marcus ist aber nicht nur wegen seiner originellen Informationsbörse einzigartig. Sein erstes Buch, »Strangers Everywhere«, 1939 in London erschienen, schildert dutzende persönliche Schicksale des Exils. Es ist »das Buch unserer Gemeinschaft« (Gabriele Tergit 1971), von dem leider kaum noch Exemplare auffindbar sind, höchstens noch in der einen oder anderen englischsprachigen Bibliothek; »Dieses kurze, leicht lesbare Buch, das kurz vor Kriegsausbruch heraus- kam und über das die Katastrophe hinweg rannte, es ist eine einzigartige Quelle, es ist englisch, also nicht auf den kranken deutschen Buchmarkt angewiesen.« (Gabriele Tergit, zitiert nach: Film & Schrift, S. 328 ff.)

Nach den Kriegsjahren, nach Jahren großer finanzieller Not und sechsjähriger Unterbrechung, denkt Paul Marcus zunächst nicht an eine neue Herausgabe seiner P.P.B.s. Er hält sie für ein abgeschlossenes Kapitel. Im September 1945 aber kommt Billy wilder, mit dem Pem seit den zwanziger Jahren befreundet ist, auf dem Weg von Hollywood nach Deutschland über London bei ihm vorbei und fragt: »war- um gibst du die P.P.B. nicht wieder heraus?« Und abonniert gleich für zwei Jahre. Damit hat Pem das Startkapital. Alfred Kerr, auch er ein langjähriger Freund, unterstützt ihn und reimt: »Ein mutiges Blatt, gerechten Sinns – PEM’s Personal Bulletins«. Sie erscheinen nun wieder wöchentlich, in späteren Jahren alle zwei Wochen. ...