Urs Jaeggi
Von der Unsichtbarkeit des Guten
Der Titel könnte ebenso gut heißen: von der Unmöglichkeit der Unsichtbarkeit des Guten.
Die Frage nach der möglichen Unsichtbarkeit führt, wie schon die Frage nach dem Guten, in ein offenes Feld. Es gibt kein eindeutiges Festmachen. Anders als Oppositionen wie das Heiße und das Kalte oder das Rohe und das Gekochte sind gut und böse nicht eindeutig bestimmbar. Was in der einen Gesellschaft als gut gilt, kann in einer anderen Gesellschaft als böse bewertet werden. In der Besatzerzeit im zweiten Weltkrieg, in unserem Beispiel in Frankreich, waren Widerstandsaktionen für die Besatzer das Böse und für Widerstandskämpfer nicht nur die notwendige Reaktion, sondern auch das Gute. Man kämpfte um Freiheit, um Selbstbestimmung, und noch eingegrenzter um das Umgehen der politischen Repression. Man wollte Verfolgte, der Vernichtung ausgesetzte Juden oder Kommunisten und andere Widerständler schützen, und das ging vorab durch Verstecken.
Man wollte sie vor der Ergreifung und dem wahrscheinlichen Tod retten. Man musste sie unsichtbar machen. Das gab es in allen beteiligten Ländern, in nicht wenigen Fällen. Es waren meist Einzelaktionen. Es gab Ausnahmen. Das unmöglich Scheinende, lokal eine Vielzahl von möglichen Opfern zu retten, gab es eher selten. Im geglückten Fall wie in Dieulefit ist es nicht abwegig, im Nachhinein von einem “Wunder” zu sprechen. Eine einzelne Familie die Verfolgte versteckt, handelt in einem überschaubaren Rahmen. Ein gemeinsames und erfolgreiches Vorgehen auf lokaler Ebene setzt Übereinstimmung, unbedingt aber Geheimhaltung voraus. Eine Kleinstadt wie Dieulefit, die sich aus Bauern, Viehzüchtern, einer Arbeiterschaft, Händlern, Handwerkern und einer Bourgeoisie zusammensetzte schien nur schwer in der Lage zu sein, sich in höchstgefährliche Rettungsaktionen zu engagieren, die sich über viele Monate zogen und sich dabei einig zu bleiben. Es ist besonders schwierig, wenn verschiedene soziale Gruppen und verschiedene religiöse Gruppen in die Rettungsaktionen involviert sind. Man musste sich einig bleiben. Obwohl es in der Bevölkerung mit Sicherheit auch Vichysympathisanten gab, verhalfen sie durch ihr Schweigen den Versteckten mit zu einer „gefälschten“ Legalität. Und dies auch obwohl es unter ihnen mindestens Einzelne geben musste, denen antisemitische Einstellungen nicht fern lagen.
Egal, ob die Beteiligten die Aktionen als solidarisches Verhalten und Handeln verstanden oder nicht; es gelang. Es gab ihn, den unabdingbar notwendigen Zusammenhalt.
Im Widerstand ging es oft genug nicht nur schlicht um das Gute gegen das Böse. So einfach war es vielfach nicht. Ein bekanntes und wichtiges Beispiel: in den “Feuillets d’Hypnos” schildert René Char, der große französische Dichter und Widerstandskämpfer, wie er als Kommandoführer einer Gruppe, die oberhalb eines Dorfes beobachtete wie deutsche Soldaten unter der Dorfbevölkerung Opfer aussortierten. Er beschreibt, wie die versteckten Beobachter eine schrecklich ambivalente Entscheidung treffen mussten. Die Widerstandsgruppe, in der besseren Position und in der Überzahl, hätte die Aktion der Deutschen beenden und die ausgesonderten Dorfbewohner retten können, damit aber mit Sicherheit später die ganze Dorfbevölkerung der Rache der Besatzungsmacht ausgesetzt. Eine traumatische Situation. Wie richtig handeln? Lassen die Wiederstandskämpfer die Besetzer ihre Aktion durchführen, oder greifen sie ein, retten momentan die bedrohten Dorfbewohner, und setzen sie sie einer voraussehbaren Racheaktion aus, die erfahrungsgemäß mehr Opfer fordern würde als das Stillhalten? Beispiele für grausame Racheaktionen, nicht nur in Frankreich, gab es genug. Was also Tun, wie sich entscheiden?
Das Gute hat selten zu seinem nicht voraussehbaren Erfolg, wie am Beispiel Dieulefit, geführt. Zugleich kommen wir zu einer tief verletzenden Einsicht: das Böse organisiert sich übermächtiger als das Gute. An den Millionen in den Vernichtungslagern Umgekommenen gemessen waren die gelungenen Rettungsaktionen ein winziger Lichtblick. Und auch nach dem zweiten Weltkrieg überzogen, wie wir wissen, grausame Vernichtungsaktionen und verheerende postkoloniale Kriege die Welt.
Bleibt das unsichtbare Gute als Hoffnung, während zugleich das sichtbar Gute, das sich auf den Strassen nicht nur der Metropolen an den unmöglichen Zuständen einfallsreich reibt und aufreibt? Die sichtbar und unsichtbar agierenden Guten als Hoffnung?
Als Hoffnung ja, bei all den nicht ausbleibenden
Enttäuschungen, dass sich zu wenig zum Guten ändert.